„Dieser verf***te Virus“ – Gedanken zum Thema Sexualität und Jugendarbeit

Der Geschlechtsverkehr war dumm, erst aufgeregt, Potenzproblem
Bin nach zehn Sekunden gekommen, fing nach zwanzig an mich zu schämen.
Aber hab’ am nächsten Tag den Brüdern dann erzählt,
dass ich jetzt voll der geile Ficker bin und weiß wie alles geht”

Antilopengang “Bang Bang”

Sex in der Lebenswelt Jugendlicher (und darüber hinaus) zeigt sich als etwas, das zwischen Überdosis und Tabu hin und her gerissen wird.

Von der Krone-Seite-7, über Werbung bis hin zu einschlägigen Internetseiten, ist Sexualität ein Reiz der leicht in Überdosis zu bekommen ist. Gleichzeitig wartet auf der anderen Seite ein Tabu, über das geschwiegen wird. Wenn es um die individuelle Gestaltung, das Entdecken & Erleben von Sex abseits von comic-hafter Übersteigerung und um Ängste & Hoffnungen geht. Die Erwartung alles zu wissen bevor man es erfahren kann, sorgt hier für großen Druck.

Es war einmal…

… in einer Zeit als man sich noch ohne Masken vor Gesichtern treffen konnte und dabei so nah zusammensaß, dass man leise sprechen konnte und es trotzdem jeder in der Runde hörte. Denn es ging um ein heißes Thema:

?!Sex!?

Im Februar 2020, fand bei Back Bone 20 eine kleine Gesprächsrunde mit Unterstützung des ISP (Institut für Sexualpädagogik) statt. Zwei Jugendliche aus einer größeren Gruppe hatten sich in die Höhle des Löwen gewagt, um über Sex zu sprechen. Der Schwere des Themas angemessen, saßen mit ihnen ein muttersprachlicher Jugendarbeiter, ein Sozialarbeiter und ein Sozialpädagoge im Kreis – man weiß ja nie was da kommt… lediglich der Jurist hatte keine Zeit 😉

Dass es zu diesem „schiefen“ Verhältnis kam, hatte weniger mit dem „Abdecken aller Flanken“ sondern mit dem Prinzip der Freiwilligkeit zu tun. Bis ca. 5 Minuten vor vereinbarter Uhrzeit war nicht klar, ob und wie viele Jungs aus der etwa 10-köpfigen Gruppe auftauchen würden.

Der Mut der beiden Burschen wurde durch drei wesentliche Zutaten befeuert:

eine hohe lebensweltliche Relevanz,

da praktisch alle Burschen in dem Freundeskreis in ihrem sexuellen Erwachen stecken. Man kann dem Pulsschlag richtig zusehen wie er sich steigert, wenn wieder Gespräche, Bilder oder Videos in diese Richtung abbiegen.

eine starke positive Verbindung zu Back Bone,

die über monatelange Beziehungsarbeit entstanden ist und Sicherheit gibt, hier nicht beschämt zu werden.

eine nur minimale zeitliche und räumliche Distanz,

indem das Gespräch nahtlos an einen Termin im Tonstudio von Back Bone anschloss, den ein Kollege in weiser Voraussicht so gelegt hatte. Und wenn man schon mal da ist, mag man ja auch nicht unhöflich sein…

Als einer der Jugendlichen eine Stunde später auf seinen ausgekühlten Toast blickt, schaut er entgeistert wieder hoch: „Oh ich hab zu essen vergessen… Egal. DAS war wichtiger.“ und meint damit das intensive Gespräch, das ihn soeben wieder losgelassen hat. Wer den Heißhunger pubertierender Kraftsportler kennt, weiß: DAS war jetzt ein Kompliment.

Raumöffner

Was hat nun den Raum so geöffnet, dass sich das Leben eines duftenden Käsetoasts so dramatisch verlängern kann?

Muttersprache zulassen

Die Muttersprache ist ein Rückzugsort. Auch weil sie oft eben nicht von allen in der Runde verstanden wird und so für etwas Entlastung sorgen kann. Dazu kommt, dass Stress auch die Fähigkeit zum Ausdruck von Ideen, Emotionen, Fragen… einschränkt. In Fremdsprachen nochmals mehr als in er Muttersprache.

Fragen über die Bande spielen

Den Fokus von sich selbst wegzubekommen, wirkt entlastend. Etwa indem man „für einen Freund“ frägt. Oder der Erwachsene anbietet zu sagen „welche Fragen oft von Jugendlichen in eurem Alter gestellt werden“.

Bilder und Zeichnungen nutzen

Der Alltag ist geprägt von Bildern und gerade jene die in Zusammenhang mit Sex über die Bildschirme flimmern, haben garantiert schon den Weg in die Köpfe Jugendlicher gefunden. Gut gezeichnete Darstellungen (etwa von Geschlechtsteilen), docken am gut geschulten graphischen Verständnis an und helfen dort weiter wo Sprache und Vorstellung anstehen.

Anwesenheit ernst nehmen und schätzen

„G‘schadet hätt‘s den Anderen auch net…“, ging mir durch den Kopf, als wir statt mit zehn Burschen auf einmal nur mit zwei dasaßen. Die Verlockung war groß, sie zu bitten doch herumzutelefonieren damit die Anderen auch schnell herkämmen – und so die Anwesenden in Gruppenhaftung zu nehmen indem sie die unangenehme Aufgaben umgehängt bekommen.

Umso wichtiger, den Fokus bewusst anders zu legen und die zwei Jungs wert zu schätzen die es geschafft haben. Konkret hieß das pünktlich anzufangen und ihnen die volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie sonst mit den Anderen teilen müssten.

Es wird einmal…

“Im Nachhinein betrachtet, war es nicht so wichtig
Doch es fickt nun mal deinen Kopf, wenn du noch nicht gefickt bist”

Antilopengang “Gang Bang”

Das Thema Sexualität wird dieses Jahr ein besonderes Frühlingserwachen erleben. Die wohl sichtbarste Konsequenz ist das fast vollständige Verschwinden von Kennenlernen, Anbandeln, händchenhaltend Spazieren, am Parkbankerl knutschen, etc… aus dem öffentlichen Raum. Wenn das Recht nach Punkt und Beistrich befolgt wird, auch aus den Privaträumen, denn wenn man mit der neuen Liebe nicht schon zusammenwohnt, heißt es “Abstand halten”.

Für Jugendliche könnte dieser Sommer, ein Sommer der sexuellen Verschiebung werden. Einerseits weil sie die Erfüllung ihres realen Bedürfnisses immer weiter nach hinten verschieben müssen. Andererseits weil die Pornoindustrie offensiv zu einer Verschiebung zur digitalen Ersatzbefriedigung einlädt. Dass Pornhub schon im März sein Premiumangebot gratis gestellt hat, wie GQ berichtet, ist das bekannteste Beispiel dafür.

Tabuisierung, Unerreichbarkeit und realitätsferne Darstellungen: ein guter Nährboden um Mythen wachsen zu lassen und Anspannung aufzubauen.

Niederschwellige Angebote um über Sexualität reden zu können, eigene Freuden und Ängste zu thematisieren und Zugang zu hochwertigen Informationen zu bekommen, werden also auch in der neuen Normalität eine wichtige Rolle in der Entwicklung junger Menschen spielen.
Jugendarbeit ist hier eine zugewandte Begleiterin, die zugleich ernst nimmt und lachen kann. Sie hilft im Dialog den Weg zwischen Massensexualisierung und individueller Sprachlosigkeit zu finden.
Nur fertige Antworten hat sie keine bereit 😉

Martin Dworak
Back Bone – Mobile Jugendarbeit 20
Kontakt:

PS: herzlichen Dank an Michael Hansal vom ISP für die gelassen, humorvolle Begleitung des Gesprächs bei Back Bone.

Stadt Wien MA13

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