Hello, my name is: Corona. Bericht über den ersten Covid-19 Verdachtsfall bei Bahnfrei

Der Philosoph Slavoj Zizek sinnierte in Zeiten der Quarantäne in einem Zeitungsartikel über den Unterschied zwischen der Realität und dem Realen. Realität ist auf der einen Seite die Welt da draußen, die wir kennen, das Handfeste, an das wir gewöhnt sind und das wir auch gut einschätzen können. Das Reale, so Zizek, ist verzwickter: „eine geisterhafte Entität – unsichtbar und scheinbar allmächtig“. Corona als solcher „gespenstischer Akteur“ eröffnete von Anfang an einen immensen Raum für allerlei Fantasien und Spekulationen. „Corona hat meinen Kopf gef@#%&“ – wie es ein Jugendlicher bei Bahnfrei kürzlich recht nonchalant aber treffend formuliert hatte.

Vor der großen grauen Sorgenwolke war auch die Jugendarbeit nicht gefeit und so ist es wohl vielen ergangen, dass wir über die weitere Existenz und zukünftige Gestaltung unserer Arbeit gerade in den ersten Wochen der Ausgangsbeschränkungen nur spekulieren konnten. Als wir uns bei Bahnfrei zu dieser Zeit bei einem unserer wöchentlichen Donnerstalks1 mit dem erwähnten Zeitungsartikel beschäftigten, wurde klar, wir können in dieser Situation unsere Handlungsmöglichkeiten und die neuen Anforderungen an die Jugendarbeit viel besser einschätzen, wenn wir wieder nach draußen gehen und sobald als möglich auch mit Indoorangeboten beginnen. Offene Jugendarbeit mitsamt ihren Angeboten und Einrichtungen ist kein Luxusgut, sondern essenziell im Leben der Jugendlichen.

Covid-Verdachtsfall im Jugendtreff: das Reale wird Realität

Bei Bahnfrei wurden wir nach der eingeschränkten Öffnung unseres Jugendtreffs „Waggons“ Mitte Mai viel schneller als gedacht mit dieser „Corona-Realität“ konfrontiert. Nur durch Zufall erfuhren wir, dass einer unserer Jugendlichen als Verdachtsfall galt und sich mitsamt seiner Familie einer Testung unterziehen musste. Spoiler vorab: Das Testergebnis war negativ, wie wir etwas später in Erfahrung bringen konnten. Glücklicherweise hatte der betroffene Jugendliche im Jugendtreff nur Kontakt zu vier anderen Jugendlichen und zwei Mitarbeiter*innen. Nach schnell einberufenen Krisensitzungen brachten wir unseren Corona-Notfallplan zur Anwendung. Der Jugendtreff wurde geschlossen und alle Kontaktpersonen des Jugendlichen über die Situation informiert. Die diensthabenden Mitarbeiter*innen begaben sich in Selbstquarantäne und wir nahmen zu den zuständigen Behörden Kontakt auf.

Es zeigte sich, dass ein Verdachtsfall schnell weite Kreise zieht, beispielsweise mussten wir auch zwei andere Einrichtungen (eine Jugendnotschlafstelle und ein Krisenzentrum) sicherheitshalber verständigen. Ein schnelles Testergebnis zu bekommen, ist in unserer Arbeit daher von immenser Bedeutung. Nach viel Beharrlichkeit und Drängen unsererseits beim Gesundheitsamt Floridsdorf konnten wir schon am nächsten Tag Entwarnung geben – was alle Beteiligten natürlich total erleichterte und unsere beiden Mitarbeiter*innen sogar zu einem „Spontan-Rave“ veranlasste. Der Jugendtreff konnte damit ebenfalls sofort wieder geöffnet werden.

Hygienemaßnahmen im Jugendtreff

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick darauf, welche Maßnahmen wir vorab für die Öffnung unseres Jugendtreffs festgelegt hatten. Nach einigen Adaptionen in Hinblick auf den Raum sowie die geltenden Regeln erschien uns die Wiederöffnung Mitte Mai – zeitgleich mit der Wiederöffnung der Schulen – gut vertretbar. Dazu zählen beispielsweise ein Eingangskorridor, Maskenpflicht im Innenraum, maximale Personenanzahl von 10, desinfizieren was das Zeug hält und den Mindestabstand von einem Meter einhalten. Jugendliche müssen nun außerdem beim ersten Mal „Einchecken“, wenn sie in den Jugendtreff kommen. Das bedeutet, dass wir ihre Kontaktdaten erfassen und sie über den Umgang mit ihren Daten, insbesondere auch bei einem Verdachtsfall, informieren.

Ein zentrales Prinzip der Offenen Jugendarbeit – die Anonymität – wurde somit bei unserem Indoor-Angebot wegen Corona ausgesetzt. Die eingetretene Situation des Verdachtsfalls hat unsere Vorsicht hier auf jeden Fall bestätigt. Die Jugendlichen hatten alle großes Verständnis dafür und es war möglich, alle Beteiligten umgehend zu informieren. Wichtig ist aus unserer Sicht, die Gründe unseres Handelns und damit auch das teilweise Aussetzen der Anonymität mit den Jugendlichen zu besprechen und dadurch verständlich zu machen.

Lessons learned: Was wir uns aus dieser Erfahrung mitnehmen

Wie schon eingangs beschrieben, hat uns die Notwendigkeit, mit einem Verdachtsfall umzugehen, vieles an Erkenntnissen gebracht, die wir auch gerne mit anderen Einrichtungen teilen möchten. Wir haben festgestellt, dass sich ein neuer Unterstützungsbedarf auftut. Die Jugendlichen treffen sich auch abseits unserer Angebote und werden immer wieder mit Verdachtsfällen konfrontiert sein. Durch unsere Arbeit bekommen wir Dinge mit und können Jugendliche dann in dieser Situation unterstützen.

Jugendliche und ihre Angehörigen brauchen Unterstützung im Falle von Corona

Unser Anlassfall machte deutlich, dass nicht nur die Jugendlichen, sondern auch ihre Angehörigen womöglich Ansprechpersonen dafür benötigen, wie mit der Situation umzugehen ist. Das reicht von Informationen geben, Sorgen hören bis hin zu den Ernst der Lage verdeutlichen. Bei 1450 anzurufen, sich testen zu lassen und eine Quarantäne durchzuhalten, all das sind für viele keine einfach zu nehmenden Hürden.

Letztendlich war es allem Anschein nach auch auf unser Bemühen zurückzuführen, dass es nicht wie angekündigt erst nach vier Tagen, sondern bereits am nächsten Tag ein Testergebnis gab. Angebote der Jugendarbeit sind aus diesem Blickwinkel nicht Horte der Ansteckung, sondern Jugendarbeiter*innen können aktiv einen Beitrag zur Eindämmung des Virus leisten.

Eine Ansprechperson bei den zuständigen Stellen ist sinnvoll

Was sich bei unserem Anlassfall ebenfalls gezeigt hat ist, dass eine zentrale Ansprechperson für die Jugendarbeit bei den Behörden sinnvoll wäre. Die zuständigen Stellen blicken tendenziell aus ärztlicher Perspektive auf die Dinge und sind daher mit Jugendarbeit wenig vertraut. Gleichzeitig bekamen wir auch einen guten Einblick, wie sich das Prozedere bei einem Verdachtsfall gestaltet. Relevant sind hier beispielsweise alle Kontakte bis 48 Stunden vor den ersten Symptomen. Interessant ist auch, dass Kontaktpersonen eines Verdachtsfalls sich zwar in Selbstisolation begeben sollten, aber erst dann getestet werden, wenn das Ergebnis des Verdachtsfalls positiv ausfällt.

Die zeitlich begrenzte Aufhebung der Anonymität ermöglicht das Öffnen des Jugendtreffs

Mit viel Bauchweh hatten wir die neuen Regelungen im Jugendtreff etabliert. Gerade das teilweise Aufheben der Anonymität, indem sich Jugendliche nun quasi mit ihren Daten für die Nutzung des Jugendtreffs registrieren, hatte im Vorfeld viel an Diskussion und Überlegung erfordert. Es hat sich aus unserer Sicht nach dem Verdachtsfall bestätigt, dass dies eine sinnvolle Maßnahme darstellt und die Resonanz der Jugendlichen ist sehr positiv.

Wir sind sehr glücklich darüber, dass unsere Angebote, wenn auch etwas eingeschränkt, wieder laufen und wir wieder Zeit mit unseren Jugendlichen verbringen können. Dafür wollen wir weiter gut gewappnet sein und freuen uns daher auch auf einen regen Austausch mit anderen Einrichtungen in Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten in dieser herausfordernden Zeit.

Andreas Neidl, Verein Bahnfrei
Kontakt:

1 Bei den „Donnerstalks“ traf sich das Bahnfrei-Team immer donnerstags zu einer Debatte auf Zoom, um über verschiedene jugendarbeitsrelevante Themen anhand ausgewählter Studienergebnisse oder Artikel zu diskutieren.

Stadt Wien MA13

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